Vielseitig
Trotz der 9 Kindern lernt Frau Lotte Schreibmaschine in der Handelsschule bei Moses Deutschländer (Anzeige), um ihrem Rabbiner-Gemahl bei seiner Riesenkorrespondenz und seinen literarischen Arbeiten behilflich zu sein: in den Hamburger Adressbüchern der 1920er Jahre ist Moses Deutschlaender als Handelsschulleiter, Grindelalle 53, aufgeführt.
Tante Recha: Wie hat sie alles geschafft?
Lotte hat nicht nur geknipst, getippt und gedichtet
Wenn sie einer Geburt wegen nicht an offiziellen Feierlichkeiten teilnehmen konnte, entschuldigte sie sich: Lotte Carlebach – amtlich verhindert
Sie waltete im Rabbiner Haushalt mit ihren neun Kindern und deren ungezählten Spielfreunden, auch als Mittag- und Abendessen-Kameraden, mit den in Not geratenen Bittstellern in diesen Zeiten der Bedrängnis, die Organisation der rabbinerlichen Sprechstunde, mit ständigen Gästen und last but not least – mit so genannten “Zwischenleistungen”.
Noch mehr junge Kinder in der NS-Zeit
In der Altonaer Palmaille wurden strohblonde, uniformierte Jungen stundenlang gedrillt. Da kam es des Öfteren vor, dass einer der schmächtigeren Kleinen ganz einfach zusammenklappte und ohnmächtig wurde. Diese Kinder der Hitlerjugend wurden dann ohne viel Aufstand in unser Rabbiner-Haus gebracht – Palmaille 57 und auf eines der Kinderbetten gelegt. Frau Rabbiner Lotte Carlebach gab ihnen Tee und legte ihnen feuchte Tücher auf die Stirn, streichelte manchmal über ihr blasses Gesicht und sagte:
Nu Nebbich, zum Erbarmen, es sind doch nur kleine Kinder.
Tante Recha
Flüchtlingskinder
“…wir haben wieder ein Kind mehr …sie heißt Ruth …von dem Dampfer nach Cuba, der wieder zurückkehrte, sie geht in die Schule… “
Postkarte von Lotte, 8.7.1939
“… Leo ist ja auch noch hier, er sieht ja süß aus, er hat einen braunen Hut, ‘ne braune Jacke und eine hellbraune Hose…”
Brief mit Zeichnung von Noemi
“… Nun will ich Dir mal ein bisschen Näheres über das Mädchen Eva schreiben. Ihre Familie ist polnisch, sie auch. Und ihr Vater und ihre Geschwister sind nach Polen abgeholt. Und die Mutter und ein Bruder von ihr sind in Fürth geblieben. Sie war in Bremen und durfte nicht wieder nach Fürth. Da wollte sie nach Berlin… und da durfte sie auch nicht bleiben. Und dann kam sie zu uns und hat sich bei der Polizei gemeldet, und sie durfte bei uns bleiben …”
Brief von Noemi, April 1939
Die Pfundsammlung
Die Carlebachsche Kellerküche diente als Sammelstelle für die so genannte “Pfundsammlung” zur Unterstützung bedürftiger Familien. Jede Hausfrau spendete nach eigener Wahl jeden Monat Lebensmittel von einem Pfund. Erwünscht sind Erbsen, Bohnen, Linsen … Haferflocken, Tee, Kakao … Nudeln, Butter und Pflanzenfett, letztere drei Sorten nur koscher … und unter den Namen und Adressen der Sammel- und Verteilungsstellen war natürlich auch Frau Rabbiner Lotte Carlebach bekannt gegeben.
Die Mazze-Fabrik
Brief von Frau Rabbiner Carlebach an ihre Kinder in London vom 7.4.1939:
“… die Lebensmittelversorgung zu Pessach ist schrecklich schwierig. Gott sei Dank existiert ja noch die Mazzefabrik von Katz, so dass man wenigstens Mazzot hat, aber die Quanten sind natürlich viel kleiner als sonst.“
„… Herr Katz hat geradezu Unglaubliches in seiner Mazze-Fabrik geleistet; sie haben, glaube ich, in den letzten 6 Wochen vor Pessach Tag und Nacht unaufhörlich gearbeitet…“
„… Ich selbst hing fast den ganzen Tag an der Strippe, der und der hatte keine Mazzot bekommen – dort lachten sie schon immer, wenn ich sie anrief, die Gemeinde da und da hat ihre Mazzot noch nicht!”
Und vielleicht hat nicht nur Herr Katz Unglaubliches geleistet…
Tröstungsmahlzeiten
Je nach Lage machte Lotte Carlebach Krankenbesuche, schickte von ihr gekochte Gerichte ins Haus, von denen besonders Erdbeeren mit Zitronenkrem als Heilmittel wirkten. Kinder kranker Mütter oder aus Familien der jüdischen Gemeinde in der nicht abbrechenden Kette der Krisenzeiten, weilten im Carlebach-Haus als Logiergäste; und wenn es gar nicht anders ging, sandte sie einen Blumenstrauß mit eilig geschriebenen Gruß und Genesungswunsch.
Sorge für arme alleinstehende Bräute
Die Chuppa, also die Trau-Zeremonie (Hochzeit) für arme Bräute fand dann im Carlebach-Haus statt, danach kam die von Lotte Carlebach vorbereitete Bewirtung. Noch zuvor jedoch gab es die beratenden Gespräche von Lotte mit der Braut, mit diskreter Hilfe bei der Beschaffung der Aussteuer ….
In den Schreckensjahren kam es auch vor, dass ein junges Paar Hals über Kopf zur Hochzeit ins Carlebachsche Haus “rannte”, um einen Verhafteten aus dem KZ zu befreien oder um eine “Doppel-Ausreise” auf ein “Einzelzertifikat” zu ermöglichen. Es schien jedoch, als wäre Frau Lotte immer “startbereit” für alle möglichen und unmöglichen Situationen.
Nie hörte man sie lamentieren, obgleich objektiv gesehen es gar nicht so einfach war. Selbst als in letzter Minute ihr fertig gekochtes “Schabbes-Essen” diskret an eine Not leidende Familie gegeben wurde, brachte sie es fertig “immer etwas anderes aus dem Boden zu stampfen.”
Tante Recha:
Wir, anfangs skeptische Carlebach-Schwägerinnen zerbrachen uns immer wieder den Kopf: Wie hat sie das geschafft! Neun Kinder, Tür- und Telefongeklingel, Gespräche mit Bittstellern und noch dazu ihre Gastgebigkeit! Wie hat sie das nur fertig gebracht! Und immer alles mit der Ruhe…
Dazu Rabbinerfrau Weiss:
“Lotte Carlebach hatte andere Wertmassstäbe als die meisten von uns. Was ihr wirklich wichtig war? Die menschlichen Werte in konkrete Taten umzusetzen, dafür fand sie die Zeit …”
Lotte mit zwei Schwägerinnen: Bella Rosenack (links) und Recha Carlebach (rechts)